Christopherus als Kostenträger

Kostenträger

Kostenträger

Die Kostenträger bezahlen die Musik und bestimmen, was sie spielt. Sie dirigieren ärztliches Handeln. Das gilt stets. Ein Arzt am Boden der Fabrik hat keinen beachtenswerten Umgang mit diesen Institutionen.

Im Gesundheitssystem sind die Kostenträger „die Kassen“. Das sind in erster Linie die gesetzlichen Krankenkassen, die Ersatzkassen, die Knappschaft und die Berufsgenossenschaften für die Arbeitsunfälle und Berufserkrankungen. Die Kostenträger überweisen den Leistungsträgern das Geld. Knapp ein Zehntel der Deutschen ist privat versichert. Da ist das anders, ebenso bei der Finanzierung von Rehabilitationskosten.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen vertreten als Körperschaften öffentlichen Rechts die in einer Praxis niedergelassenen Haus- und Fachärzte. Im Rahmen der Selbstverwaltung poolen sie die Zahlungen der Kostenträger in ein Gesamtbudget. Das verteilen sie nach einem Honorarverteilungsmaßstab an ihre Mitglieder.

Krankenhausfinanzierung

Systematik und Verfahren sind bei Krankenhäusern durch und durch anders als im ambulanten Sektor. Die Kliniken sind in Selbstverwaltung und Interessenvertretung auf Landes- (z.B. für Nordrhein-Westfalen die Krankenhausgesellschaft NRW) und Bundesebene organisiert. Dort werden richtunggebende Versorgungsfragen geklärt. Das konkrete Budget verhandelt die Geschäftsführung des einzelnen Krankenhausunternehmens mit den Kassen. Das sind regional unterschiedlich Dutzende. Die aufwendigen und langwierigen Sitzungen wären mit so zahlreichen Partnerinnen nicht durchführbar. Die Krankenkassen schließen sich deshalb regelmäßig hinter einer Verhandlungsführerin zusammen. Das ist oft das Unternehmen, bei dem die meisten Patienten eines Krankenhauses versichert sind. 90 % der Gesamterlöse werden in diesen Gesprächen entschieden.

§ 4 Die Krankenhäuser werden dadurch wirtschaftlich gesichert, daß

1. ihre Investitionskosten im Wege öffentlicher Förderung übernommen werden und sie
2. leistungsgerechte Erlöse aus den Pflegesätzen, die nach Maßgabe dieses Gesetzes auch Investitionskosten enthalten können, sowie Vergütungen für vor- und nachstationäre Behandlung und für ambulantes Operieren erhalten.

Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Krankenhausfinanzierungsgesetz – KHG)

Die Krankenhausvergütung basiert seit 2004 auf Fallpauschalen, Diagnosis Related Groups (DRGs). Ein Fall, eine Pauschale. Je mehr Fälle das Krankenhaus behandeln darf, desto mehr Geld erhält es. Behandelt es mehr Fälle als im Budget vereinbart, werden diese mit Abschlägen von zwei Dritteln bestraft. Da die Kosten entstanden sind, rechnet sich nicht vorab ausgemachte Mehrleistung damit nicht.

Weniger Fälle als vereinbart führen zu geringeren Erlösen. Ausgefallene Pauschalen werden zunächst mit einem Drittel ersetzt. In den Budgetverhandlungen des folgenden Jahres verkleinert die Kassenseite das Budget. Am Budget hängt Personal. Das bringt das Krankenhaus an ökonomische Grenzen und die Belegschaft in Not: Personalkosten dominieren die Kostenstruktur. Hier wird zuerst gespart. Ups.

Die Budgetverhandlungen entscheiden die Fallzahlen.

Fallwert = Relativgewicht x Basisfallwert
Krankenhauserlös = SUMME (Fallwert, 1-n)

Der Basisfallwert wird jährlich neu in Euro festgesetzt. Seine Höhe (Nordrhein-Westfalen: 3.738,55 EUR für 2021) hängt ab von dem kalkulierten Gesamtbudget der Krankenhäuser. Melden viele Häuser höhere Budgets, sinkt der Basisfallwert. Bei einem DRG-Relativgewicht von 1 zahlen die Kostenträger für die Versorgung eines durchschnittlich aufwändigen Patienten den Basisfallwert. Davon abweichender Aufwand wird durch Änderung des Relativgewichts abgebildet: die Behandlung einer unkomplizierten Parkinsonerkrankung (DRG: B67B, Relativgewicht 0,764 x 3750 EUR = 2865 EUR), beispielsweise, ist weniger komplex und deshalb geringer vergütet als die Betreuung eines komplizierten Schlaganfalls (DRG B70C, Relativgewicht 1,166 x 3750 EUR = 4372,50 EUR).

Nur das Beste in die Tüte, mit allem

Die Kostenträger wollen immerfort das Beste für die Versicherten. Im Internet finden Suchmaschinen des Vertrauens mit „AOK Werbung“ in Bildern in Sekundenschnelle eine kunterbunte Vielfalt des Wünschenswerten (und genauso bei den anderen Kassen). So werden in die Tüte der Fallpauschale erdenklich viele Leistungsforderungen und Kriterien gepackt, alles zu einem „absolut fairen“ und „günstigen“ Preis: Das Relativgewicht muss niedrig sein.

Das Gesamtleistungsvolumen in einem Bundesland wird durch die Schrauben der Basisfallwerte, der Relativgewichte und Fallzahlen passend gemacht. Wenn das Volumen zu groß wird, können die Kassen das Budget aus den Beiträgen der Versicherten nicht stemmen, ohne sie zu erhöhen. Die Beitragshöhe in der gesetzlichen Krankenversicherung ist eine eminent politische und gesamtwirtschaftliche Frage. Jeder Beteiligte hat eine Meinung. Mindestens 73 Millionen Versicherte und Familienangehörige reden mit und drücken bei Wahlen ihren Willen wirksam aus. Für die Kassen ist die Beitragshöhe eine Existenzfrage in der Konkurrenz um zahlende Mitglieder. Dieser Kampf ist hart: In den letzten zwanzig Jahren ist die Zahl gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland von 420 auf 105 geschrumpft, und die Sorgen nehmen unter dem Druck der Pandemie rasch weiter zu. Sie werden inzwischen nicht nur wegen Corona, sondern auch wegen vergangener politischer Entscheidungen vor Corona bedrohlich

Zehn Minuten mehr

Ein Beispiel: Als wir vor Jahren mit dem Betrieb einer Schlaganfallstation anfingen, wurde eine Monitoranlage angeschafft, um jeden Patienten mit den notwendigen Vitalwerten zu überwachen. Die Anlage konnte 72 Stunden mitschreiben. In der Leistungsbeschreibung der Pauschale wurde eine Überwachung von „mehr als 72 Stunden“ gefordert. Als bei den ersten Patienten die Aufzeichnung technisch bedingt nach 71 Stunden 59 Minuten beendet war, wurden die Pauschalen gestrichen: mehr als 72 Stunden heißt eben mehr als 72 Stunden. Wir haben darauf hin die Maschinerie angeworfen, 10 Minuten laufen lassen, einen Ausdruck abgeheftet und wieder angefangen: Das war mehr als 72 Stunden. Wir hätten das kommen sehen können.

Die Krankenhäuser begegnen den Kostenträgern in den Verhandlungen nicht ebenbürtig. Das Gefälle an Macht und Wissen ist enorm, da die Kassen ihre Daten aggregieren und in die Verhandlungen mit detaillierten Kenntnissen über das Haus und seine Mitbewerber eintreten. Diesen Überblick kann ein einzelnes Krankenhaus nicht haben. Dann tragen auch mal Geschäftsführer, die Chefärzte zum Weinen bringen, den Hut in der Hand. Das Ende der „Barmherzigkeit der Intransparenz“ ist da.

Wer schreibt, der bleibt

Wegen der hohen Bedeutung von Patientensicherheit und Behandlungsqualität wird vieles kontrolliert. Nach einem alten Satz des Qualitätsmanagements wird gemacht, was gemessen wird. Es wird dabei viel gemacht, was messbar dysfunktional ist. Manches ist unter dem Kontrollgesichtspunkt sinnvoll und nicht zielführend für die Gesamtsituation – oft nicht einmal für die Patienten.

Die Krankenhäuser betreiben zwangsläufig einen hohen Aufwand für die Sicherstellung der Dokumentationsqualität. Mit der Einführung des DRG-Systems 2002 entstanden neue Berufe, wie Kodierfachkräfte und Medizin-Controller. Es verschoben sich auch ärztliche Tätigkeitsmerkmale: Eingabe am Computer, Abhaken in der Aufklärungsdokumentation und das Anfertigen von Kopien wurden zu bestimmenden Tätigkeiten auf der Station, die mit dem erzwungenen Zeitaufwand gleichwertig neben Patientengespräch, Diagnose und Behandlung traten.

Ist es ein Wunder, wenn sich vom Chefarzt bis zum Assistenten alle stetig mehr in diese Richtungen blicken als auf den Patienten? Dort spielt nämlich die Musik.

Von Fall zu Fall

Die Kontrollen der stationären Behandlungen, die Fallprüfungen, werden im Auftrag der Kostenträger durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen geleistet. Der MDK prüft auf Initiative der Kassen etwa 20 % der Krankenhausfälle, in einzelnen Häusern bis zu 45%. (Die – nicht kontrollierte – gesetzliche Obergrenze der Prüfquote ist 12,5% und wurde coronabedingt für 2021 auf 5% herabgesetzt.)

Für eine Abteilung mit 2500 Patienten im Jahr 2019 berechnet sich das so: 2500 Fälle x 0,15 Prüfquote x 51 Minuten / 60 = 318 Stunden für MDK-Prüfungen / 8 tägliche Arbeitsstunden = 40 Arbeitstage, das sind 2 Monate einer ärztlichen Vollkraft für Fallprüfungen in einer einzigen Abteilung.

In dieser Betrachtung sind die laufenden Dokumentationsarbeiten des Stationsalltags nicht berücksichtigt. Das sind für jeden Arzt etwa 4 Stunden täglich. Diese Zeit fehlt an anderer Stelle. Die Fallpauschale bildet diesen Aufwand nicht ab.

„Deliktsfördernde Tatgelegenheitsstruktur“ nach R. Kölbel

„Deutsche Krankenhäuser stellen teure Falschabrechnungen an Kassen“ schreibt die Welt nach einem Bericht des Bundesrechnungshofs. 50% der geprüften Abrechnungen seien falsch. Es müssen von de Kassen mehr Prüfungen veranlasst werden. Potenzial bei der Abrechnungsprüfung bleibt ungenutzt.

Wenn – wie in dem Beispiel von der Stroke-Unit – 5 Minuten fehlen, fällt die Pauschale. Dann wurde sie falsch abgerechnet. Und sie taucht konsequenterweise in der Statistik als Falschabrechnung auf. Da gibt es nur schwarz und weiß und nichts dazwischen. Klinik dagegen ist Differenzierung. Hier herrschen die Schattierungen. Es gibt Sachverhalte, die sind klar und werden von allen Beteiligten gleich bewertet. Und wir treffen auf Lagen im Nebel, Dunst, in dem diese Klarheit nicht herrscht. Dann wird halt gestritten – oder eben nicht, siehe oben, wenn sich das Haus den Streit nicht leisten kann. Dass Kliniken versuchen, die Regeln zu nutzen, wie sie im DRG-Handbuch stehen, ist klar. Sie machen dasselbe wie die Kassen: Diese nutzen die Regeln, wie sie im DRG-Handbuch stehen. Ist auch klar. Darüber Jammern bringt nicht weiter. Keine Seite macht das freiwillig. Beide Seiten wurden durch Gesetze, die nicht vom Berge Sinai herab kamen, in diese Verhältnisse gebracht. Das ist heute nicht so pläsierlich, wie man einst erwartete.

Wir gegen die?

Wir werden das nicht zurückdrehen können, damit leben und alle miteinander klar kommen müssen – und das wollen. Ich meine das nicht sanftmütig. Wir könnten sehr wohl versuchen, uns in einander hineinzudenken, ohne angemessen oder fair zu finden, was die andere Seite macht.

Der Nichtarbeiter tut alles gegen den Arbeiter, was der Arbeiter gegen sich selbst tut, aber er tut nicht gegen sich selbst, was er gegen den Arbeiter tut.

Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Die entfremdete Arbeit. In: K. Marx u. F. Engels, Werke, Ergänzungsband, 1. Teil, S. 510

Übrigens: Wie kommen die 15% der Prüfquote zustande? Da gab es Auffälligkeiten bei Plausibilitätsprüfungen. Was ist mit den anderen 85%? Wir reden über Falschabrechnungen in einer Größenordnung von um die 10 bis 15% der abgerechneten Fälle. Dabei sind jede Menge Grenzfälle. Man wird eines Tages die Kontrollpotenziale heben. Doch um welchen Preis?

Krankenversicherung ist nicht Krankenversorgung

Das Vergütungssystem erzwingt stetig kürzere Verweildauern. Nach knapp sechs Kalendertagen im Krankenhaus kommt nicht jede Patientin zu Hause klar. Sie könnte vielleicht ein paar Tage später. Ich erinnere mich an Zeiten, zu denen die Dame zwei, drei Tage länger blieb, bis sie wieder konnte. Heute wird spätestens am zweiten Tag der Sozialdienst gerufen. Er soll einen Rehabilitations- oder Heimplatz suchen. Das ist eine andere Form von „Sektorenübergreifender Versorgung“, von der Kranken- in die Pflegeversicherung.

Die Verringerung der Liegezeit führt zwangsläufig zu einer Veränderung der mittleren Verweildauer und damit absehbar zu einem kleineren Relativgewicht der Fallpauschale. Womit die Schraube in die nächste Drehung quietscht.

Das Risiko ist hoch und alle strampeln. Da darf man fragen, ob das der richtige Fokus ist.

Zauber im Beruf

Die Gesundheitsberufe haben einen eigentümlichen Zauber. Diese Poesie entschädigt für manches, was mit Geld nicht auszugleichen wäre. Ärztliche Arbeit ist im Sinne des frühen Marx im Großen und Ganzen entfremdungsfrei. Ich bestimme die Produktionsmittel, sehe die Ergebnisse meines Handelns und begegne als Mensch dem Menschen, dem Patienten und den um mich herum Tätigen als Gattungswesen.

In dem Maße, wie die Daseinsfürsorge aus dem Gesundheitswesen herausverdünnt wird, indem die Marktelemente tonangebend werden, tritt der Warencharakter der Gesundheitsarbeit hervor. Nicht mehr Dasein und Fürsorge bestimmen ärztliches Handeln, sondern Markt und Macht.

Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert.

Karld Marx, ebd.

Arbeitskräfte

Die Arbeitskräfte im ärztlichen und pflegerischen Dienst, in den tertiären Bereichen von der Raumpflege bis zum Einkauf werden zu Produktionsmitteln in einem auf Kostenverhinderung getrimmten Betrieb. Soweit sie behandelt werden wie Produktionsmittel, darf sich weder der Arbeitgeber (der bei den Katholiken früher Dienstgeber hieß) noch die Gesellschaft allgemein wundern, dass sie sich verhalten wie eines. So taumeln die Krankenhäuser in die Warenwelt der Sachen.

Was soll aus uns allen werden, wenn die Medilowda ihren Beruf immer öfter „trotz“ ausüben und immer seltener „wegen“?

Offen blieb, zum Beispiel:

Ambulante Versorgung: Dysfunktionale Strukturen und Finanzierung
Pflegerische Versorgung nach Entlassung: Heim und Übergangspflege. Die Abseitsregel.
Notaufnahme: To admit or not admit
Dysfunktionale Steuerungseffekte
Sektoren: Übergriffige Versorgung
Klinikverbände und Klinik-Konzerne: Die Macht der Wenigen in den Vielen.

Titelbild: Graffito in Lissabon (2019)

Ich danke Herrn Stefan Overhagen für die freundliche Durchsicht.

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