#37 Juliana Spellmeyer

#37w. Sie kannte ihn von letzten Jahren. Er war sehr schnatz gewesen, dann war es aus. Sie ist nie lange in Berlin. Sie war seither auch länger weg. Beruflich. Nun ist sie wieder da. Berlin – hört man – ist anders als Millionenstädte: schneller grausam, diverser, brutalistischer, mehr porno und bei Weitem nicht so sesshaft wie München, Köln und Hamburg, Vancouver gar. Berlin sei das New York der Steppe, quasi, das Paris der Streusandbüchse. Das mit dem polyamoren Semi-Lesben-Bi-Outcoming hätte sie sich sparen können: Es war doch jedem absolut egal, der nichts mit ihr zu tun hatte, doch nicht dem einen Herzblatt, das sie wollte. Jedex wollte sie allein für sich und immer, mühevoll, und dann ab morgen monogam. Die promovierte Germanistin arbeitet für sehr teure Beratungsunternehmen nach Anstellungen als Bürogehilfin und in der DRV als Mutterschutzvertretung. Drei Jahre war sie weg from Berlin. Sie lernt mit einer App, Vogelstimmen zu erkennen, weil am Grunewaldsee gestern Abend sie nicht verstanden worden war. Sie hört:

Der Balzruf des Männchens ist ein weittragendes, zweisilbiges, eher pfeifendes „ü-iilp“. Bei Störungen am Nest rufen die Altvögel gereiht „kju-kju-kju“. Wenn Artgenossen das Nest eines Paares anfliegen, rufen die Reviervögel durchdringend und ebenfalls eher pfeifend „pjüpp“. 

Wikipedia: Fischadler

Ihr sternumhoher Teleskopstock klackert mit der roten Kugelspitze am Beton entlang, als sie sich dreht. Sie setzt sich hin wie Damensitz zu Pferde. Sie wendet sich zum Klang von Schritten, die sie kennt, Pferdelederschuhensohlen ohne Gummi auf Betonkopfsteinen knirschen etwas gesplitterten Granit. Und ihr Antlitz sucht den Duft. Ein Mann kommt ihr sehr nah, neigt sein Gesicht dem ihren zu. Sie zuckt kein bisschen, atmet ein, ein ganz kleines wenig aus, und noch einmal. Ein mauseleises schnarchend-schmatzendes Geräusch: Es klingt nach Schmecken. Mit beiden Händen tastet sie die Züge ab und auch das schüttre Haar als wäre sie im Streichelzoo und prellt mit flacher rechter Hand ihm alternierend auf den Scheitel und die Stirn. Es ist ganz still. Sie greift und hält den Kopf vor ihr an beiden Wangen wie eines Kelches Henkeln fest. Sie hält ihn hoch und hoch und trinkt und küsst ihn auf die Lippen. Und er sie auch.

Gottesdämmern?

Er säß‘ normal herum in Wien
und auch mal einfach so ganz gerne
bei Brandwein und Cigar im Landtmann
so hört man aus der Völkerforscherszene.

„Vertrau“ sagt
Freud der Naftulowna,
„auf Destruktion
doch nicht auf Sterben.

Sie wühlt
wie Welle
und wird dich weiter
walzend tragen.“

Amenhotep, der vierte,
schuf einen Berg
aus hunderttausend Leben,
und Sonne schmilzt  zum Glas den Sand.

Er wollte auf der Spitze 
am Bart gezogen sein,
weil einzig er so mächtig
auf aller Berge Gipfel,

den er sich selbst gebaut,
er unter allen Sonnen
allein die Welt erschaut.
So sollten alle schwärmen.

Ein Mensch, der schreit, dass er normal?
Kein Mensch und doch ein Wesen?
Schildkröte? Sand im Rücken? Wüste vorn?
Verlassen frag den Eli der Maschinen.

Am Schmerz erkenn‘ ich meine Kinder.
Nun will ich wissen, wo ich schlafen kann.
Berge schleift der Seidenschal.
Kalpas wären mir viel lieber.

Der Ort des Geschehens als what3words Adresse:

winkel.geführte.zigarre

A Dangerous Method / Eine dunkle Begierde: Film von David Cronenberg. In der IMDB

„Berlin liebt anders“ Ein Beitrag von Sarah Obertreis in der F.A.S. vom 4.6.2023

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