#75 Christian Kurtz

m76. Nach dem Schulabschluss war er 1963 nach Kuba gegangen. Es schien ihm logisch. Seine Mutter war katholisch. Sie war wohl schon etwas überrascht, als sie schwanger wurde. Aber – hatte sie ihm irgendwann einmal gesagt, als er mit seiner ersten Freundin rummachte  –  das wurden damals viele. Da war auch nichts zu machen. Na, hatte sie gesagt, und war ihm dabei mit den Händen durch das  Haar gewuschelt: das wollte ich auch nicht: was machen. Er hatte ein vages Gefühl, ein Echo von Entschärfung, von Freundschaft, von Bewegung und Vergebung gehabt. Sogar Dankbarkeit fürs Leben und wollte davon etwas weiter geben. Als die Zeit in Kuba um war, ging er nicht zurück nach Hause. Die Mutter starb. Er war Jahre im Recycling, leitete einen großen Laden in Leipzig. Seine Kinder kommen ihn besuchen. Er kocht sehr gern für alle und hat auch einen großen Grill. Auf dem Friedhof hat er das Grab nicht finden können, dabei ist der doch gar nicht groß. Das heutige ist ausgebreitet, er kann es nicht besorgen. Er hat sich ein Eis gekauft. Er sieht Vanille und Banane beim Schmelzen zu.

Am Abend, da es kühle war

„..geht es nur noch um Beherrschung.“
sagt Igor Iwanowitsch Sikorsky.

„Es geht um Richtung in allem. Einzeln ist egal.
Es geht um Wirkung in die Fläche.“ 
sagt Mikhail Timofeyevich Kalashnikov.

„Keine Panzerung kann halten.
Panzer stehen. Leben wandeln sich
und sie bewegen sich in Schulen.
sagt John Walter Christie.

Linienschiffe und Fregatten trugen Sterbende im Bug. 
Alle sind am Kotzen, Heulen und am Schreien
und entbehrlich.

Es ist sehr blutig, aber gut gespült, auch sauber.
Und wieder sind wir vorne, wo wir kotzen,
und bluten, wo immer das Leben uns braucht.

Was ist, wenn wir ausgeschieden 
– keiner wird sich je beschweren – 
weg wie in: Da schau – und keiner da?

Helft uns nur den Erdgeist binden.
Seht her, wir machen alles neu
und das  erborgte Licht verblasst.

Am Abend, da es kühle war, 
ward unten hinten und blutrot.

Der Ort des Geschehens als what3words Adresse:

heutige.ausgebreitet.besorgen

Die vier Streifen sind angeregt von Stephan Kaluza: „Felder“ 2011, Köln, Dumont. Hier werden „Salamis“ (1), „Verdun“ (2) und „Seelower Höhen“ (3&4) von links nach rechts erwähnt. Die Website von Stephan Kaluza ist hier.

Die Schlacht um die Seelower Höhen vom 16. bis 19. April 1945 eröffnete die Schlacht um Berlin am Ende des Zweiten Weltkrieges.

Die drei „Zitate“ am Anfang wurden nie so gesagt. Sie sind frei erfunden.

Igor Iwanowitsch Sikorski leitete 1913 die Konstruktion des damals größten Passagierflugzeugs der Welt, das später im Ersten Weltkrieg als Bomber eingesetzt wurde. Nach seiner Emigration in die USA war er einer der wichtigsten Konstrukteure von Hubschraubern.

Mikhail Timofeyevich Kalashnikov ist der Entwickler des Sturmgewehrs AK-47, Kalaschnikow.

John Walter Christie ist der Erfinder eines Kettenlaufwerks, das insbesondere in sowjetischen Panzern der 30er und 40er Jahre eingesetzt wurde.

Das Binden des Erdgeistes und das Verblassen des erborgten Lichts in den letzten Zeilen gehen zurück auf Novalis: „Das Lied der Toten“, z. B. Seite 362f in: Der große Conrady: Das Buch deutscher Gedichte, Artemis & Winkler, 2008

„Am Abend da es kühle war“, Text, Aufführung z. B. hier: Rezitativ aus der Matthäuspassion von J. S. Bach.

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