Die erste Hirnwanne war eine Echokammer avant la lettre
1974. Berlin. Vor einem halben Jahr habe ich mit dem Medizinstudium begonnen. Das war eine sehr ambivalente Entscheidung. Eigentlich wollte ich Philosoph oder Psychoanalytiker werden, schließlich hatte ich mich auf Psychiater eingeschossen. In einem langen und für mich eher unangenehmen Gespräch machte mein Vater mir klar, dass ich dann wohl zunächst einmal Arzt werden müsste. Denn Psychiater sind Ärzte. Deshalb hatte ich in Berlin mit dem Medizinstudium begonnen. Wenn man verstehen will, wie normale Menschen denken, kann es sinnvoll sein, sich mit denen zu beschäftigen, deren Denken nicht so normal zu sein scheint. Letztlich erschien mir das damals eine Frage des Hirns zu sein und so beschloss ich, mich mit dem Hirn zu beschäftigen. Das ist etwas schlicht gedacht. Ich war neunzehn – und es ist ja auch heute nicht ganz falsch.
Für die beiden Bilder des Hörsaals des alten Anatomischen Instituts der FU Berlin und die Genehmigung zur Nutzung hier danke ich Herrn Lars Poeck (www.ig-fotografie.de), auf dessen Website sich weitere Ansichten des Instituts finden.


Hirn ist eine wirklich sehr weiche Sache.
Gespräch mit dem Präparator
Ich:
Ich suche nach Fixierflüssigkeit.
Präparator:
Wofür brauchst Du denn die?
Ich:
Rinderhirne, zum Fixieren.
Präparator:
Kannst Du haben. Aber sag‘ mal: Die Hirne waren doch mal in was drin, oder? Bring mal einen Rinderschädel mit Hörnern, kannst Du fünf Liter unverdünnt kriegen. Also unverdünntes Formaldehyd. Kannste dann selbst anrühren. Ist besser.
Kuhschädel auf Linie 10
Eine Woche später fahre ich mit einem Kuhschädel in einer ziemlichen steifen Plastefolie auf den Knien mit der Linie 10 vom Hohenzollerndamm nach Dahlem. Der Schädel wiegt etwa 10 kg, Er hat noch Weichteilreste. Die Länge über die Hörner ist sehr viel mehr als ein Meter, vielleicht zwei oder fünf. Ich versuche, dem Publikumsverkehr aus dem Wege zu gehen, und zirkele den Schädel durch die enge Treppe auf das Oberdeck des Doppeldeckers.
Bild: Public Domain. Wellcome Collection
Zurück mit einem Kanister Formaldehyd
Der Fleischer besorgt neue Hirne, die ich in einem alten Farbeimer in die Fixierflüssigkeit lege und auf dem Balkon lagere. Ich habe reichlich Salz dazugegeben, damit sie schwimmen und nicht gedrückt werden. Die Hirne zerlege ich nach Experimenten mit der Dauer der Fixierung auf dem Küchentisch mit dem Brotmesser (das längste Messer in der Küche). Leider hat es Wellenschliff. Weshalb nehme ich das kürzere, große Küchenmesser von der Oma. Die Hirne haben jetzt eine Festigkeit wie Tofu (den gab es damals nicht) und sind in der Farbe irgendwo zwischen grau und beige. Ich kann nicht so richtig was erkennen, fühle mich aber schon stärker erinnert an den Anatomieatlas.
Gefärbt wäre reizvoller.
Zurück zu den Präparatoren. Für Färbung ist der Professor zu fragen. Ich gehe zur Sekretärin, da kommt er aber schon herein und fragt mich, was ich möchte. Ich schildere ihm mein Anliegen der Färbung von Rinderhirn durch histologische Farben. Ich habe keine Ahnung von den Einzelheiten, erzähle aber irgendetwas davon, dass man wohl einen Unterschied zwischen den Bereichen mit den Nervenzellen und den Fasern darstellen können müssen muss. Das habe er selbst gesagt. In der Vorlesung.
Der Professor geht mit mir in das Labor, öffnet den Chemikalienschrank und sagt: „Fangen Sie an. Rezepte gibt es auch irgendwo.“ Aus Vorlesung, Chemiepraktikum und Universitätsbibliothek, den Etiketten auf den Flaschen, Aufzeichnungen der technischen Abläufe und dem Rest der Welt bastele ich mir eine Berliner Färbung, die funktioniert. Am Abend kommt der Professor, sieht meine Rinderscheiben: „Warum machen Sie das nicht mit menschlichen Hirnen?“


Hirnwanne
Wir gehen in den Keller. In einem langen Gang ist eine Nische mit einer Betonwanne von etwa ein Meter auf ein Meter mal zwei Meter. Die Wanne steht auf einem kleinen Podest, sodass die Oberkante etwa in Höhe meiner Hüfte ist. Sie ist bis an den Rand mit einer Flüssigkeit gefüllt. An der Oberfläche der Wanne sind Hügelchen erkennbar, wie Walnusstorte. Die Beleuchtung ist neonmäßig, aber schlecht. Es sind menschliche Gehirne. Wenn man eines dieser Hügelchen drückt, titscht es leicht zurück. Es müssen Tausend sein, denke ich.
Die haben doch alle was gesehen, gehört, geschmeckt, ihren Verstand gebraucht, hatten Familien, sind U-Bahn von und zur Arbeit gefahren. Ich sah wochenlang in der U-Bahn die Gehirne unfixiert in den Köpfen der Passagiere schwabbeln, so ganz allein und so einsam am Denken.
Abb.: Hintergrund aus Peter Bloch, Waldemar Grzimek: Das Klassische Berlin. Die Berliner Bildhauerschule im neunzehnten Jahrhundert, Propyläen, 1978, Abbildung 124