Abschied

Ansprache am 15. Januar 2020, Marienkirche, Oberhausen

Sehr geehrter Herr Pastor,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin überwältigt, dankbar und stolz, dass so viele Menschen hier sind. Danke.

So habe ich fast 25 Jahre voll gemacht am St. Josef-Hospital, 48 Jahre in deutschen Krankenhäusern.

Klar: das lädt ein zu Rückblicken auf deutsche Krankenhäuser im Wandel der Jahre oder das Gesundheitswesen im Wandel der Jahreszeiten. Wir reden also über viele Jahre. Für mich bedeuten diese Jahre seit Beginn meines Medizinstudiums in Berlin etwa einhundertvierzigtausend Menschen. Ich war selbst überrascht. Aber es ist so. Ungefähr einhundertvierzigtausend Menschen habe ich gesprochen, untersucht, nackend gesehen, meist in Sorge, oft in Angst. Immer wieder in beidem.

Türme der Marienkirche, Oberhausen, hinter dem St. Josef Hospital,
links: Radiologie Institut Oberhausen

Das ist der erste wichtige Punkt: ein grundloses Geschenk, eine Gnade.

Einhundertvierzigtausend Menschen zu begegnen, ist sicher kein Verdienst und nicht einmal etwas Besonderes. Jeder erfahrene Arzt war mal ein unerfahrener Arzt. Ablauf von Zeit qualifiziert für nichts als Wärmetod in Entropie. Einhundertvierzigtausend Menschen habe ich gesehen, gehört, befühlt, betastet, gerochen. Es gibt viele Gerüche der Krankheit, des Elends, der seelischen Not, der Verwahrlosung, auch mit Maden in den Socken. Es gibt Momente der Schönheit, der atemberaubenden Eleganz. Ich meine alle Sinne. „Entropie“ sagte ich auch.

Auf Nachttischen sehe ich Kinder, Enkel, Eltern, Fische, Hamster, Hunde, ich seh‘ Fotos, Zeichnungen, Hände, Tatzen, Gips, Ton, Papier. Menschen errichten so was für die wichtigen Dinge im Leben. Sonst hätten sie nicht einen Maialtar, eine Strandburg oder die Courtine einer Ritterburg á la Mariborg um ihr Bett gestellt. Andere Menschen sollen genau das sehen und dann das Sterben stören. „Entropie“ sagte ich auch.

Was ist das mir? Wir kommen zum zweiten Punkt: anhaltende Überforderung.

Man kann nicht einhundertvierzigtausend Menschen begegnen und immer alles richtig machen. Was dem Arzt Routine, ist dem Patienten biografisches Ereignis. Das ist die Punchline im Statistikkurs. Die Leute kommen doch nicht freiwillig. Sie kommen aus Angst. Das Nicht-Gerecht-Werden ist das normale, das Gelingen die Ausnahme. Da ist noch lange keiner gestorben oder auch nur zu Schaden gekommen. Da kann man sich bemühen, wie man will: „Wirklich“ wird nie gut sein, schon gar nicht „Das Beste“. Für einen selbst nicht. Und auch nicht für die Leute. „Hinreichend gut“ wäre Winnicotts Zauberwort – das quasi als Literaturhinweis für die jüngeren Ärztinnen und Ärzte. Sie müssen lernen, der Doktor an dem Tag zu sein, an dem es nicht recht sein kann.

Da stolpern wir schon in den dritten Punkt: Treue.

Ich konnte diese vielen Menschen nur ertragen, weil ich in den 25 Jahren niemals allein war. Es gab sehr viele Menschen, die mich noch weiter benesten und begründen, begeisten und begeistern. Das fängt schon lange vor unserer Pforte an und hört am Wirtschaftshof nicht auf. Ich kann mir ganz SciFi-mäßig keine Welt vorstellen, in der diese Menschen nicht wirken. Es gibt ein paar Spezialfälle, die nicht ungenannt davon kommen sollten. Selbst in parallelen Universen hätten wir uns über die Jahrhunderte gefunden. Die „Krassen Neuronauten“, unsere Leute überhaupt. 

…hier einige persönliche Danksagungen ….

Das war das Treue-Thema. Wir kommen zum vierten Punkt. Variabilität.

In diesen hundertvierzigtausend steckt eine enorme Variabilität: Ich habe Dinge gesehen, die Sie nicht glauben könnten, wenn Sie sie sähen. Ich habe Liebe gesehen im Tun; ich habe sie gesehen im Versagen so tief wie Kadaver in die See sinken. Und so große Freude und Strahlen am Dabeisein für einen anderen Menschen, dass ich mich fragte: Was mache ich hier? Menschen sind sehr abwechslungsreich. Entropie sagte ich auch.

Fünftens: Kontingenz. Oops. Kontingenz ist das, in dem wir leben. Wir werden niemals wissen, was als Nächstes kommt. Und es wird siebtens, elftens oder dreihundertsiebenunddreißigstens ganz anders sein. Und das ist ein Wunder. Freier Wille und Kontingenz. Das sind die Geschenke des Herrn für seine Arbeiter im Weinberg. 

Und jetzt wird Ende, Dämmerung. Also letzter Punkt:

Mit Menschen und Erfahrung, dass alles anders ist, komme ich schlechter klar als früher, als ich jünger war. Zwar liebe ich die Menschen immer mehr, doch so dass ich sie weniger versteh‘. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Ich bin so froh, dass ich jetzt geh‘.

Ich bin gefragt worden, was ich jetzt tun werde: Fegen. Denke ich. Zusammenfegen. Mir ist das Epische irgendwie abhandengekommen. Und dann schau, was geht. 

christophwzimmermann.com

Bis ich nicht mehr kann oder tot bin, was immer eher passiert.

Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Ihre Unterstützung Ihr Dabeisein und mitmachen und bin ab jetzt auch weg.

Ein Bericht in der WAZ vom 15.1.2020 findet sich hier.

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